Pfingstpredigt 2020 von Propst Ziemens

Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daher fährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Sie gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören: Parther, Meder und Elsamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Lybiens nach Zyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden. (Apostelgeschichte 2,1-11)

Ein Pfingsten, wie damals in Jerusalem, hätte es heute gar nicht geben können. Was in der Apostelgeschichte beschrieben wird, wäre unter Corona-Bedingungen gar nicht möglich gewesen. Menschenmassen strömen zusammen, Hunderte, wahrscheinlich eher Tausende finden sich an einem Ort ein. Polizei und Ordnungskräfte hätten diese Veranstaltung heute sofort aufgelöst. Wir haben es ja erlebt in den vergangenen Wochen: Große Freiluftveranstaltungen, Musikfestivals, Volksfeste – alles wurde abgesagt: Ein Jahr ohne Oktoberfest, ohne Fußball-Europameisterschaft, ohne Wacken, ohne Domweih. Menschen strömen nicht zusammen, sondern gehen auf Abstand. Die Pfingst-Euphorie mit berauschten Massen, von denen die Bibel berichtet, gibt es nicht. Ob es sie jemals gab in der Realität?

Gottes Geist berauscht zunächst einmal nicht. Er nüchtert uns gewissermaßen aus. Denn Gottes Geist lehrt uns, dass wir mit Jesus nicht direkt, sondern nur über die Entfernung hinweg Gemeinschaft haben können. Wir haben Jesus nicht mehr als den unter uns, der vor zweitausend Jahren den Menschen in Galiläa und Judäa das Reich Gottes verkündigte. Jesus spricht nicht mehr mit eigenem Mund zu uns, er heilt nicht mehr mit seinen eigenen Händen. Und davon, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, davon wissen wir nur durch das Zeugnis der ersten Christen. Aber gerade deshalb erinnert uns Gottes Geist. Er erinnert uns daran, dass Jesus uns nach wie vor begegnet, nicht leibhaftig, aber doch in den Menschen, mit denen wir zusammenleben. Er vermittelt uns, dass viele Erfahrungen, die wir mit Menschen machen, Erfahrungen mit Gott sind. Er hebt uns ins Bewusstsein, dass Gott uns anrührt, wenn wir uns von anderen Menschen im Herzen anrühren lassen.

Und so führt uns der Geist Gottes durch unser Leben wie durch ein inneres Museum. Er richtet unseren Blick auf unbezahlbare Bilder in unseren Herzen, die uns spüren lassen: Hier bist du Gott nahe gewesen. Hier ist Gott zu dir gekommen und du zu Gott. Hier hat Gott bei dir Wohnung genommen. Hier, schau hin, da bist du im Baum gesessen wie Zachäus damals, beladen mit einem schlechten Gewissen und voller Hoffnung. Und Gott ist bei dir eingekehrt; er hat einen Menschen geschickt, der dir gesagt hat: Du weißt, so kann es nicht weitergehen. Du musst einen neuen Anfang machen mit deinen Mitmenschen, du kannst sie nicht länger übers Ohr hauen. Hab keine Angst, ich gehe mit dir, ich lasse dich nicht im Stich, denn du bist es allemal wert.

Und dort, als du nach Jahren zu deinem Vater heimgekehrt bist, für den du verloren warst, da habt ihr einander ins Leben entlassen. Alles, was zwischen euch stand, was euch verletzt und enttäuscht hat, alle Lügen, alle Ausreden und alle bösen Worte, all das konntet ihr beiseite legen. Und dann seid ihr gemeinsam in den Gottesdienst gegangen und habt das Mahl gefeiert.

Und damals, als dein Kind gestorben war, als dir der Boden unten den Füßen wegbrach, als es nur noch dieses elende "Warum" gab und diese bohrende Frage "Warum gerade mein Kind?" und keine Antwort, da waren sie da, die Hände, die inmitten des Unfassbaren deine Hand gefasst haben, liebevoll und zärtlich, und da waren sie da, die einfühlsamen Stimmen, die getröstet haben ohne zu vertrösten. Und da ist er gewachsen, der neue Boden, auf dem du stehen kannst und im Innersten spürst: Es gibt Grenzen, hinter die kann ich nicht blicken. Aber vor diesen Grenzen ist Gott da, in den Menschen, die mich lieben, und genauso auch ist Gott hinter diesen Grenzen im auferweckten Jesus Christus.

Ich wünsche Ihnen und Euch frohe und gesegnete Pfingsten
Matthias Ziemens, Propst