Maria Himmelfahrts-Predigt am 15. August 2020 von Propst Ziemens

Irgendwo in den Bergen Israels singt ein einfaches jüdisches Mädchen ein Lied. Eine andere Frau hört mit. Beide sind schwanger. Beide Frauen wissen, dass sie ihre Kinder in eine Welt hineingebären müssen, in der die Kinder der Armen nichts gelten. Und dennoch ist es ein Lied voller Hoffnung und Freude, das dieses Mädchen singt:

„Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan und sein Name ist heilig. (Lukasevangelium, 1, 46-49).

Maria ist groß, weil Gott auf sie geschaut hat. In einem Lied fängt das Unmögliche an sich zu ereignen: Gott kommt in die Welt. Näher, intimer, unbegreiflicher als je zuvor. Maria zeigt, was das für uns bedeutet: Er will Platz nehmen in unseren Herzen. Er hat Maria berührt, mitten in ihrem Leben. Und sie hat sich berühren lassen, und so gelingt es ihr, aus ihrer Mitte heraus zu antworten:
„Meine Seele preist die Größe des Herrn...“

Als Jüdin steht Maria in einer langen Tradition mutiger Frauen voller Hoffnung und Glaubenskraft. Für ihr Lied schöpft sie aus dem Schatz der Texte, in denen schon früher die Größe Gottes besungen wurde, und das Staunen darüber, dass immer wieder einfache Menschen Trägerinnen und Träger seiner Großtaten waren. Als zutiefst von Gott berührte kommt in ihrem Lobgesang ihre Hoffnung zum Klingen. Ihre Hoffnung darauf, dass das „oben“ und „unten“ in der Welt Gottes nicht mehr gelten. Dass die Willkür der Mächtigen ihr Ende findet. Dass die Kleinen erwählt sind und Beachtung finden. Dass der Himmel über ihnen aufgeht:

Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. (Lukasevangelium 1, 50-53).

Maria verkündet Gott als den, dessen Machttat das Erbarmen ist. Berührt von seinem Versprechen vertraut sie, weil all das nun anfängt als Zeichen für das Ende der alten Zeit. Maria singt aus Dankbarkeit und wir beten ihr Lied, das wir das Magnifikat nennen, heute weiter. Mit diesem Gesang endet im Stundengebet der Kirche die Vesper überall auf der Welt.

Maria singt aus persönlicher Dankbarkeit, aber sie singt nicht für sich allein. Sie singt als eine der Niedrigen dieser Welt, die die Sprache derer spricht, die Solidarität und Mit-Leidenschaft brauchen. Mit ihrem Lied ergreift sie Partei für die vielen, die für Gerechtigkeit eintreten und gegen Habgier und Macht, die in der Entwürdigung und Sklaverei der anderen bestehen.

Dieses Lied hat in den Ohren der Armen dieser Welt einen besonderen Klang, zum Beispiel in Lateinamerika, in Mexiko. Der Legende nach erscheint hier im Jahre 1531 einem christlich gewordenen Indianer die „Liebe Frau von Guadalupe“. Sie erscheint auf einem den Indios heiligen Hügel, begleitet von Musik, für die Indios das Mittel göttlicher Kommunikation. Ein Einheimischer hört Maria in seiner eigenen, unterdrückten Sprache sprechen. Hier ist der meistbesuchte Marien- Wallfahrtsort der Welt entstanden. Rund 20 Millionen Pilger besuchen jedes Jahr diesen Ort am Stadtrand von Mexiko-Stadt.

Mit ihrem Lied ergreift Maria Partei für die Armen dieser Welt. Für die vielen, de für Gerechtigkeit eintreten und gegen Habgier und Macht, die in der Entwürdigung und Sklaverei anderer bestehen,Sie singt für die Armen, die Trauernden, die Gewaltfreien, die Barmherzigen, die Friedensstifterinnen und Friedensstifter. Für die, die reinen Herzens sind. Für alle, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit.

Heute dürfen wir mit einstimmen, in Marias Gesang auf die Größe Gottes und ein Fest feiern, das von Lebensfreude und Optimismus geprägt ist, auch wenn wir in diesen Zeiten von zerstörerischen Kräften umgeben sind, denn Gott bringt uns, wo und wie auch immer, mit Seele und Leib an einen sicheren Ort, an dem es kein „unten“ und „oben“ gibt.

Matthias Ziemens, Propst